Die leise Not der Kinder und Jugendlichen

Es ist schlecht bestellt um die Versorgungslage für Heranwachsende mit psychischen und sozialen Auffälligkeiten und Hilfebedarfen. Ihre Zahl ist spürbar gestiegen. Öffentliche Träger und private Träger, wie die Stiftung St. Franziskus, sind sich einig, dass die Gemengelage ernsthafte Ausmaße erreicht hat. Auch die öffentliche Kreisjugendhilfe Schwarzwald-Baar ist wegen stark gestiegener Fallzahlen und eines hohen Betreuungsbedarfs bei gleichzeitig fehlenden Plätzen und fehlendem Personal alarmiert. Alle Beteiligten müssen dringend an einem Strang ziehen, um mit Nachdruck Lösungen zum Wohle dieser vulnerablen Gesellschaftsgruppe zu finden.

Enorme Fallzahlsteigerungen im Bereich des Kinderschutzes. Zunahme von Verhaltensauffälligkeiten. Zunahme psychiatrischer und therapeutischer Bedarfe von Schülern. Steigende Bedarfe durch psychische Belastungen schon im Kleinkindalter. Anstieg von vollstationären Unterbringungsbedarfen. Steigende Bedarfe im Migrationsbereich, gleichzeitig fehlende Integrationsfachkräfte. Steigende Anforderungen und Belastungen des Fachpersonals in der Jugendhilfe.

Besorgniserregend liest sich die Bestandsaufnahme des Kreisjugendamtes des Landkreises Schwarzwald-Baar. Die Liste der Warnsignale innerhalb der Jugendhilfe ließe sich sogar noch verlängern. In den meisten deutschen Kommunen dürfte die Situation ähnlich alarmierend sein.

Ein spürbar gestiegener Anteil innerhalb der jungen Generation leidet unter psychosozialen Problemen. Das heißt, diese jungen Menschen weisen psychische und soziale Auffälligkeiten auf. Das kann sich in Erkrankungen wie Depressionen, in Angst-, Entwicklungs- oder Bindungsstörungen äußern. In solchen Fällen ist meistens auch die soziale Interaktion beeinträchtigt. Diese Kinder und Jugendlichen befinden sich in seelischer Not und brauchen dringend Hilfe und Unterstützung. Nicht wenige sind auch innerhalb ihrer Familie gefährdet. „Wir verzeichnen eine stetige Fallzahlsteigerung im Kinderschutz, gleichzeitig können durch mangelnde Hilfeangebote Kindeswohlgefährdungen kaum noch abgewandt werden“, gibt sich Jürgen Stach, Sozialdezernent im Landkreis Schwarzwald-Baar äußerst besorgt. Hinzu kämen unzureichende Angebote im vorschulischen, schulischen und in jugendhilferechtlichen Systemen. „Präventive Sozialarbeit und klassische erzieherische Hilfen sind nicht mehr ausreichend, geschweige denn zeitnah möglich“, so Stach. Bisherige Hilfeangebote durch freie Träger seien wegen des allgemeinen Fachkräftemangels nicht mehr kurzfristig zu bekommen.

Die Stiftung St. Franziskus mit ihren drei Leistungsbereichen – Altenhilfe, Behindertenhilfe, Kinder- und Jugendhilfe – ist solch ein freier Träger. „Die Situation ist, man muss es leider ohne Übertreibung so feststellen, überaus beunruhigend“, sagt Matthias Ries, Aufgabenfeldleiter der Kinder- und Jugendhilfe der Stiftung St. Franziskus. Der freie Jugendhilfeträger mit Hauptsitz in Schramberg-Heiligenbronn unterhält mehrere Einrichtungen in der Kinder- und Jugendhilfe, vornehmlich im Landkreis Schwarzwald-Baar. Zum Beispiel stationäre Wohngruppen und Plätze zur ambulanten Betreuung sowie Angebote zur Unterstützung von Familien und zur Beschulung. „Wir können uns vor Anfragen kaum retten und platzen in unseren Einrichtungen sowieso schon aus allen Nähten“, so Ries. Gleichzeitig fehle qualifiziertes Personal und die vorhandenen Kontingente hätten längst die Grenzen der Belastbarkeit erreicht.

Drohende Überlastungssituation

Öffentliche und freie Träger schlagen daher Alarm. Es fehlt an Plätzen zur Unterbringung und Betreuung, an Fachpersonal, an Mitteln. Denn eine wachsende Zahl von Kindern und Jugendlichen erhält derzeit keine adäquate, vor allem keine schnelle Hilfe. In nicht wenigen Fällen dürfte sie dringend erforderlich sein. Exakte Zahlen sind allerdings schwer zu ermitteln. Aber die Tendenzen und die alltäglichen Erfahrungen der Jugendhilfeträger sprechen eine überdeutliche Sprache. Jürgen Stach: „Die drohende Überlastungssituation in der Jugendhilfe ist nicht pessimistisch gedacht, sondern real und mancherorts bereits eine Tatsache.“

Nicht zuletzt eine steigende Zahl von Erwachsenen und damit die Familien selbst sind überlastet. Die Konsequenzen durch die Belastungen, denen die Eltern ausgesetzt sind, kommen bei den Jüngeren schonungslos an und wirken sich auf deren Gesundheit und Entwicklung aus: Existenzängste, Migration und Flucht, psychische Erkrankungen, Anstieg von Suchtmittelmissbrauch und häuslicher Gewalt. Die Corona-Lockdowns spielten dabei offenbar eine große Rolle, sie wirkten wie ein Katalysator auf die allgemein schon schwierige Situation. Der eingeschränkte soziale Kontakt und die gesellschaftlichen Ängste während der Pandemie brachten in der jüngeren Generation das ohnehin schon randvolle Fass an Stressoren offenbar zum Überlaufen. So die Beobachtung vieler Experten, wie zum Beispiel des Deutschen Ethikrats, der resümierte, dass den spezifischen Bedürfnissen von Kindern und Jugendlichen während der Lockdowns viel zu wenig Beachtung geschenkt wurde.

An einem Strang ziehen

Aufgrund der Verwaltungs- und Finanzierungsstrukturen vertreten öffentliche Träger und private Träger nicht selten unterschiedliche Interessen, die es auszutarieren gilt. Doch in der jetzigen Situation ist unbedingt Einheit geboten, darin sind sich Jürgen Stach vom Landkreis Schwarzwald-Baar und Matthias Ries, von der Stiftung St. Franziskus einig. Um das sich immer schneller drehende Karussell aus Belastungen und sich daraus ergebenden Fallzahlen in der Kinder- und Jugendhilfe zu durchbrechen, müssen schnellstens gemeinsame Lösungen her. „Wir Träger müssen an einem Strang ziehen, um schnellstmöglich mehr Hilfs- und Unterstützungsangebote zu schaffen“, erklärt Matthias Ries. Das deckt sich mit der Meinung von Sozialdezernent Jürgen Stach: „Die Größenordnung und Komplexität der Problemstellungen zwingen uns zur vertrauensvollen Zusammenarbeit. Das Jugendamt im Schwarzwald-Baar-Kreis und alle freien Träger haben hierzu ihre Bereitschaft signalisiert.“ Die aktuelle Krise böte auch Chancen. Nämlich zu Umstrukturierungen und nachhaltigen Veränderungen und Verbesserungen der Abläufe – und damit der Versorgung der Kinder und Jugendlichen. Das Kreisjugendamt schlägt dazu etwa vor, die Möglichkeiten digitaler Beratung zu prüfen und die Verschlankung der außerordentlich aufwendigen Dokumentationsprozesse – ein zeitraubender Faktor im Alltag. Dem kann Matthias Ries nur beipflichten. „Es ist notwendig, die Belastungsfaktoren für die Mitarbeitenden zu reduzieren und ihnen wieder mehr Möglichkeiten zu schaffen, pädagogisch wirksam zu sein“.

Vielversprechende Lösungsansätze lägen auch in Umstrukturierungen, etwa in der Schaffung von sogenannten Bezirksteams (= kleine Personaleinheiten, kurze Wege), Aufbau eines Kriseninterventionszentrums und Einstellung eigener ambulanter Fachkräfte um schneller und gezielter handeln zu können.

Die Stärkung und der Ausbau der Zusammenarbeit der öffentlichen Träger und der freien Träger, wie der Stiftung St. Franziskus, darin ist man sich einig, ist ein zentraler Faktor zur schnellen und gezielten Verbesserung der aktuellen Situation. „Wir haben grundsätzlich dieselben Problematiken“, so Matthias Ries, „uns ist daran gelegen, etwa durch Transparenz und offene Kommunikation das gegenseitige Vertrauen und die Vernetzung untereinander zu stärken.“ Trägerübergreifende Fallkonferenzen etwa könnten in manchen Fällen gezielte Hilfe ermöglichen. Ihm wie auch Jürgen Stach ist daran gelegen, ebenso über neue Angebotsformen nachzudenken. Zum Beispiel Angebote in den Sozialräumen der Jugendlichen, also deren Umfeldern.

Die Rechnung ist einfach: Die Kinder und Jugendlichen, die Bedarf haben aber keine adäquate Hilfe und Unterstützung bekommen, sind ihrem Schicksal überlassen. „Kinder sind unsere Zukunft, wie es oft heißt. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass unsere Zukunft in Gefahr ist. Politik und Gesellschaft müssen also klären, was ihnen unsere Kinder und Jugendlichen wert sind und wie viel sie, in unser aller Zukunft, investieren wollen“, so Matthias Ries. Die Stiftung St. Franziskus und das Jugendamt des Schwarzwald-Baar-Kreises appellieren daher mit Nachdruck an alle Beteiligten, sich für schnelle und nachhaltige Lösungen einzusetzen.

Foto: shutterstock_Joaquin Corbalan P
 

 

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